Reform des Hilfskassengesetzes, welche in dem neuen Gesetz vom 23. Juni 1894: Loi portant revision de la loi du 3. avril 1851 sur les sociétés mutualistes1) (,,Moniteur" du 25.-26. juin 1884, No. 176-177) ihren gesetzgeberischen Abschluss fand (Anlage 1). 66 Das Gesetz scheidet die Hilfsvereine nach wie vor in anerkannte und ,nicht anerkannte" und regelt im wesentlichen die Verhältnisse der ersteren (sociétés mutualistes reconnues). Zwecke dieser können nur sein: 1. Zusicherung vorübergehender Unterstützungen an Mitglieder und deren Angehörige bei Krankheit, Unfall, Invalidität oder Geburt eines Kindes; Gewährung von Beerdigungskosten; Bewilligung vorübergehender Unterstützungen an die Familien verstorbener Mitglieder; ferner Erleichterung des Anschlusses von Mitgliedern und Familienangehörigen an die Spar-, Pensions- und Versicherungskassen der unter Staatsgarantie stehenden Allgemeinen Spar- und Pensionskasse (Caisse général d'épargne et de retraite; vgl. S. 10); 2. Versicherung der Mitglieder gegen Schäden durch Verlust oder Erkrankung von Vieh oder durch Misswachs; 3. Förderung des Sparwesens behufs Ankaufs von Wirtschaftsgegenständen; 4. Gewährung von Darlehen bis zu 300 Fr. Diejenigen Vereine, welche nur einen dieser Zwecke (Nr. 1—4) verfolgen, haben, wenn sie im übrigen den Anforderungen des Gesetzes (hinsichtlich des Inhalts der Statuten u. s. w.) genügen, ein Recht auf die staatliche Anerkennung; andere Vereine, welche mehrere dieser Zwecke zugleich verfolgen oder eine Krankenversorgung zu Gunsten bejahrter oder invalider Mitglieder bezw. ihrer Hinterbliebenen mittels Konstituierung besonderer Fonds betreiben, können die staatliche Anerkennung erhalten, haben jedoch kein Recht darauf (Art. 1, 2). Die anerkannten Hilfsvereine können unter sich Verbände bilden behufs Herstellung der Freizügigkeit zu Gunsten ihrer Mitglieder, gemeinsamer Verwaltung und Einrichtung von Schiedsgerichten zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen den Verbandsvereinen oder den Vereinsmitgliedern; auch solche Verbände können die staatliche Anerkennung erhalten (Art. 3). Die Statuten der Hilfsvereine müssen (gemäss Art. 4) gewissen Anforderungen entsprechen, insbesondere genauen Aufschluss geben über den Zweck des Vereins, Rechte und Pflichten der Mitglieder, Beiträge und Gegenleistungen, Vermögensanlage und Rechnungslegung, Abänderung der Statuten und Auflösung des Vereins. Vereine, welche die staatliche Anerkennung erlangen wollen, haben dies unter Beifügung der Statuten und einer Liste der Vorstandsmitglieder bei dem Provinzial-Statthalter zu beantragen, welcher das Gesuch mit seinem Gutachten der Permanenzkommission für Hilfsvereine übersendet, die ihrerseits wieder an die Regierung weiterberichtet; letztere hat binnen vier Monaten dem Verein einen begründeten Bescheid über die Anerkennung oder Ablehnung der Anerkennung zuzustellen und im ersteren Falle binnen 30 Tagen die Statuten des Vereins im „Moniteur" zu veröffentlichen (Art. 5, 6). Mit der staatlichen Anerkennung erlangen die Vereine Rechtspersönlichkeit, Gebührenfreiheit, Privilegierung der Unterstützungsbeträge gegen Abtretung und Pfändung, die Fähigkeit, Subventionen aus öffentlichen Mitteln 2) zu erhalten, sowie Schenkungen und Vermächtnisse zu erwerben und (mit gewissen Beschränkungen) auch Grundstücke zu besitzen (Art. 7-9, 14—15). 1) Vgl. Recueil des lois, No. XII 1894, p. 483 suiv., bezw. den Gesetzentwurf nebst Motiven vom 24. April 1894, die Berichte vom 18. Mai und 12. Juni 1894 und die Kammerverhandlungen vom 4./19. Juni 1894: Session de 1893-1894, Documents parlementaires, Chambre des Représentants No. 152, 176 1760 et Annales parlementaires p. 541 Sénat No. 93, 104 suiv. 2) Gemäss dem durch Gesetz vom 19. März 1898 (Recueil des lois, No. IX 1898, p. 61) eingeschalteten Art. 8 bis: „Les sociétés et les fédérations mutualistes reconnues par le gouvernement peuvent seules recevoir des subsides des pouvoirs publiques." Die Novelle vom 19. März 1898 ist abgedruckt in der „Revue du travail", Bruxelles, 3° année (1898) p. 306. Die Verwaltung der Vereine ist eine autonome, jedoch hinsichtlich der Kapitalsanlagen und der staatlichen Aufsicht bestimmten Regeln unterworfen; so müssen die Fonds, sobald sie 5 Fr. pro Mitglied oder den Betrag von 1000 Fr. erreichen, bei der staatlichen Sparkasse oder in staatlich garantierten Werten angelegt und alljährlich der Permanenzkommission Rechenschaftsberichte bezw. auf Erfordern noch anderweite Aufschlüsse vorgelegt werden (Art. 18, 19). Die Auflösung eines anerkannten Vereins kann durch gerichtliches Urteil erfolgen, wenn der Verein andere als die genehmigten Zwecke verfolgt, oder wenn seine Mittel zur Erfüllung der Verbindlichkeiten unzureichend sind (Art. 23 fg.). Zur Förderung des Hilfsvereinswesens ist neben den schon durch Gesetz vom 9. August 1889 eingeführten Patronage-Komitees nach wie vor eine dem Ressortministerium beigeordnete Permanenzkommission vorgesehen (Art. 19, 32). Die zur Zeit der Erlassung des Gesetzes bereits bestehenden anerkannten Vereine konnten durch Anpassung der Statuten an das neue Gesetz dessen Vorteile erwerben (Art. 33), und endlich sollte die Regierung für die Hilfsvereine besondere Gefahrentafeln1) ausarbeiten lassen (Art. 34). Wenn auch dieses neue Gesetz gegen früher einige Fortschritte brachte, insbesondere die rechtliche Stellung der Hilfsvereine verbesserte und ihnen mancherlei Vergünstigungen zuwandte, so blieb doch die Hauptfrage, die finanzielle Leistungsfähigkeit der Vereine, nach wie vor ungelöst, da die ganzen Lasten der Krankenfürsorge, abgesehen von den schwankenden und unzureichenden Zuschüssen, auch fernerhin den Arbeitern allein verblieben. Haben aber schon die besser gestellten Arbeiter Englands und Frankreichs) für die Mehrheit der Arbeiterschaft die Aufgaben einer ausreichenden Krankenfürsorge, geschweige denn einer Rentenversorgung für Alter und Invalidität nicht zu lösen vermocht, so wird dieses Ziel in Belgien auf dem Boden der geschilderten Gesetzgebung noch viel weniger zu erreichen sein. Auch hier lehrt die nachstehende Statistik, dass nur ein kleiner Bruchteil der Arbeiterschaft, regelmässig die Elite derselben, im stande ist, aus eignen Kräften und Mitteln einigermassen Vorsorge zu treffen. Dazu kommt noch, dass in Belgien die Gewerkvereine" sich mit dem Unterstützungswesen, abgesehen von Streiks, fast gar nicht befasst haben und im Gegensatz zu Frankreich noch zu keiner rechten Entwicklung gelangt sind.3) Erst durch das Gesetz vom 31. März 1898: „Loi sur les Unions professionnelles") hat die Gesetzgebung den Berufsvereinen eine festere Rechtsgrundlage gegeben und ihre Verhältnisse nach ähnlichen Grundsätzen wie das französische Syndikatsgesetz vom 21. März 18845) geregelt, so dass sie gegen einfache Hinterlegung der den gesetzlichen Bedingungen genügenden Statuten und Mitgliederverzeichnisse die Rechtspersönlichkeit erlangen. 1) In Ermangelung ausreichender Unterlagen konnten dieselben bisher noch nicht aufgestellt werden. Vgl. den S. 7 Note 2 angezogenen Bericht der Permanenzkommission S. 10-11. 2) Vgl. meine Arbeiterversicherung im Auslande", Berlin 1898 fg., Heft IV (Frankreich) S. 31 und Heft V (England) S. 15. 3) Vgl. Conrad's Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena 1892, Bd. IV S. 35-37. 4) Abgedruckt in der „Revue du travail", publiée par l'Office du travail de Belgique, Bruxelles, 3e année (1898) p. 436–443. Vgl. auch die Besprechungen des Gesetzes in dem „Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands", Hamburg, No. 40 vom 3. Oktober 1898, und in der „Sozialen Praxis", Berlin, No. 9 vom 2. Dezember 1897 und No. 3 vom 20. Oktober 1898, sowie im „Annuaire de la législation du travail" (publié par l'Office de Belgique), 2e année (1898) p. 26 suiv., Bruxelles 1899. 5) Vgl. meine „Arbeiterversicherung im Auslande", Heft IV (Frankreich) S. 18. 11 140 19 476 23 594 (12 282) 206 512 27 787 (7 579) 302 341 26 953 54 247 115 795 (6 593) 343 576 wirkl. Mitglieder 275 810 207 302 (117 645) (24 773) 600 724 1 012 439 (312 335) (370 675) (402 924) (322 853) (222 372) (329 394) (354 057) 105 693 166 442 386 224 441 757 770 962 1 293 873 (359 881) (423 564) (619 405) (611 872) (525 257) (554 781) (472 513) 87 368 123 606 296 404 348 603 466 237 688 036 (253 093) (288 327) (296 841) (216 898) (214 577) (248 397) 9400 47 106 38 144 65 699 101 482 (24 179) (19 098) (39 300) (25 766) (32 458) (45 637) 266 258 452 528 703 454 1 187 614 1 451 342 2 018 272 3 726 497 (320 915) (521 286) (1 611 447) (567 173) (492 831) (745 464) (928 108 22 389 (368 717) Für die folgenden Jahre 1896 bis 1898 stellen sich die Ergebnisse nach den vorläufigen Zusammenstellungen wie folgt: Von den 946 anerkannten Hilfsvereinen des Jahres 1896 hatten 896 (die übrigen waren meist erst im Jahre 1896 begründet worden) 1788 689 Fr. Einnahmen (darunter 1221 466 Beiträge der wirklichen Mitglieder und 149 047 Fr. Beiträge der Ehrenmitglieder), 1444 128 Fr. Ausgaben (darunter 745 190 Krankenunterstützung und 82 954 Fr. Verwaltungskosten) und 4174 744 Fr. Vermögen nachgewiesen. Im einzelnen ergiebt der letzte Bericht der Permanenzkommission3) für die Jahre 1891-1895 noch Folgendes: 1) Vgl. Annuaire statistique de la Belgique, Bruxelles, Année 1889 p. 170-171; Année 1897 p. 192. 2) Bei 6147041 Einwohnern (3062656 männl. und 3084 385 weibl.) nach der Volkszählung vom Jahre 1890 und fast 2 Mill. Lohnarbeitern. Vgl. auch S. 12 Note 1. 3) Rapport sur la situation des Sociétés mutualistes pendant les années 1891, 1892, 1893, 1894 et 1895, présenté à M. le Ministre de l'Industrie et du Travail par la Commission permanente des Sociétés mutualistes", Bruxelles 1897. Bezüglich der staatlichen u. s. w. Unterstützungen der Hilfsvereine s. S. 13-59 a. a. O. und Revue du travail (publiée par l'Office du travail), Bruxelles, 4e année p. 1038-1051, wonach durch königl. Verordnung vom 4. August 1899 an 343 Hilfsvereine Preise für gute Geschäftsführung u. s. w. ausgeteilt worden sind. Statistik der anerkannten Hilfsvereine für die Jahre 1885 bis 1895.1) 1) Vgl. Rapport sur la situation des sociétés mutualistes pendant les années 1891-1895, Bruxelles 1897, p. 83-210. 2) Diese Ehrenmitglieder spielen bei den belgischen Hilfsvereinen dieselbe Rolle wie bei den französischen Hilfsvereinen. (Frankreich) S. 5 fg. 3) Soweit die Vereine, welche statistische Nachweisungen eingeliefert hatten, solche Aufwendungen gemacht hatten. Vgl. meine Arbeiterversicherung im Auslande, Heft IV der nichtanerkannten Hilfsvereine für die Jahre 1885 bis 1895.1) Zahl der Vereine, welche statistische Nach- 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 Zahl der (ordentlichen) Mitglieder 86 87 95 114 107 243 216 332 030 365 753 222 372 16 937 25 440 96 Durchschnitt pro (ordentliches) Vereins- Fr. 9,47 12,25 144 172 214 871 24 773 7,4 703 900 536 009 22,46 28,33 25,86 29,29 27,55 29,30 22,27 23,21 23,81 24,51 25.97 1,38 1,44 1,45 9,43 10,39 8,30 7,19 7,54 7,58 1) Vgl. a. a. O. S. 211-219. |