ALLGEMEINE GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER RELIGIONEN. VON DR. PAUL DEUSSEN PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT KIEL. ZWEITER BAND, ZWEITE ABTEILUNG, ZWEITE HÄLFTE: Im Anschlusse an die Philosophie der Bibel ist es die Aufgabe der Philosophie des Mittelalters zu zeigen, wie der durch die persönliche Erscheinung Jesu, durch das Wirken des Apostels Paulus und endlich durch das vierte Evangelium ausgestaltete christliche Gedanke zunächst in der griechisch-römischen Welt und im weiteren Verlaufe bei den Völkern des nördlichen Europas in Patristik und Scholastik unter mannigfachen Kämpfen mit widerstrebenden Elementen Eingang gefunden und schliesslich die Völker Europas sich unterworfen hat. Im Gegensatz zur indischen, griechischen und biblischen Philosophie, welche, eine jede in ihrer besonderen Art, völlig neue Schöpfungen des menschlichen Geistes darbieten, ist die mittelalterliche Philosophie, abgesehen von tiefsinnigen Mystikern wie Meister Eckhart und Jakob Böhme, nur ein mixtum compositum aus biblischen und griechischen Gedankenelementen oder, genauer gesagt, eine Projektion des neutestamentlichen Lehrinhalts auf die wohlvorbereitete Fläche der griechischen Philosophie. Fehlt es sonach dieser Periode im geistigen Leben der Menschheit an Ursprünglichkeit, können wir auch nicht erwarten, aus ihr wesentliche Elemente für den Ausbau unseres eigenen geistigen Lebens zu gewinnen, so ist doch die mittelalterliche Philosophie von erheblichem kulturgeschichtlichen Interesse, und niemand wird in unserer kurzen Darstellung derselben ohne Teilnahme die Bemühungen unserer Väter verfolgen, den christlichen Gedanken zunächst auf Grund des Neuplatonismus genetisch zu begreifen und, nachdem diese |