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Ο

DIE

ENTWICKELUNG DER KUDRUNDICHTUNG

UNTERSUCHT

VON

W. WILMANNS,

LEHRER AM GRAUEN KLOSTER IN BERLIN.

HALLE,

VERLAG DER BUCHHANDLUNG DES WAISENHAUSES.

1873.

1876, Jan. 8.

Tucker Fund.

VORREDE.

Der erste, welcher den versuch machte, die Kudrundichtung in ihre bestandteile zu zerlegen, war Ettmüller. Lachmanns kritik der Nibelungen war sein 'leuchtendes vorbild'; an den Nibelungenliedern glaubte er die art und weise des epischen volksliedes so ziemlich erkannt zu haben und versuchte nach ihrem muster auch in der Kudrun zu sondern, was dem volksliede gemäss wäre und was bearbeiter hinzugetan hätten. das ziel steckte sich Ettmüller hoch. nicht nur wollte er die alten lieder wieder herstellen, sondern er unternahm es sogar, die zusätze der verschiedenen bearbeiter, deren er vier annahm, genau von einander zu sondern.

Ettmüllers arbeit erschien im jahre 1841 und war Wilhelm Grimm gewidmet. in demselben jahre hörte Müllenhoff Grimms vorlesung über die Kudrun und erhielt in ihr, wenn nicht die erste anregung zu einer untersuchung des gedichtes, so doch manche förderung. ein jahr später machte er sich ans werk, denn Ettmüllers leistung befriedigte ihn wenig. Ettmüller hatte sich darauf beschränkt, seine echten lieder abdrucken zu lassen, das übrige hatte er in die anmerkungen verwiesen, bei jeder strophe durch einen griechischen buchstaben bezeichnend, welchem interpolator sie gehöre. Müllenhoff vermisste mit recht eine begründung der entscheidungen und jede angabe bestimmter merkmale des älteren echten oder des jüngeren unechten; denn einige allgemeine bemerkungen in der vorrede wollten allerdings nicht viel besagen. ferner meinte er, schon eine oberflächliche vergleichung mancher Ettmüllerischen Kudrunlieder mit einem aus der Nibelunge not zeige, dass der herausgeber nicht einmal eine deutliche vorstellung von dem gehabt habe, was ein deutsches episches lied sei, geschweige denn dass er den übrigen anforderungen seines leuchtenden vorbildes entsprochen hätte. Müllenhoff zeigte an vielen stellen, dass Ettmüllers annahmen unhaltbar seien, legte

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seine eignen ansichten in ausführlicher abhandlung dar, suchte in die geschichte der dichtung und sage einzudringen, und liefs als resultat seiner kritik, der abhandlung die echten teile des gedichtes folgen. die interpolationen unter ihre verfasser zu verteilen, lehnte er ab. es hätte keiner wagen sollen, bemerkt er auf s. 42, die zahl der hände, die an dem gedicht gearbeitet haben, bis ins einzelne zu bestimmen und strophe für strophe diesem oder dem beizulegen; in einzelnen fällen ist es selbst schwierig zu sagen, was älter oder jünger ist.' Lachmanns kritik war wie für Ettmüller, so auch für Müllenhoff muster, jedoch nicht so, dass er blind nachahmend Lachmanns ansichten über die entstehung der Nibelungen auf die Kudrun übertragen hätte. Müllenhoffs ansichten über die entwickelung der Kudrun sind durchaus eigentümlich und zeigen die selbständigkeit des urteils und der untersuchung. die echten teile der dichtung meinte er, seien von Einem dichter verfasst; aber doch dürfe man nicht annehmen, dass dieser von vornherein mit dem plane begonnen habe, die ganze sage zu umfassen und einen abschnitt nach dem andern zu dichten; denn das wäre sonderbar, und liefse sich mit der vorstellung eines lebendigen volksgesanges nicht reimen. sein entschluss, ein gedicht für die schriftliche auffassung zu liefern, sei jedenfalls später, und wenn sich die Kudrun auch als eine grofse composition herausstelle, so bildeten doch einzelne lieder die grundlage und aus ihnen sei durch einfügung verbindender zwischenglieder das ganze hervorgegangen.

Von der richtigkeit dieser ansichten war Müllenhoff so überzeugt, dass er am schlusse seines vorworts die 'festeste zuversicht' aussprechen durfte, 'dass bei allen denen, die sich die mühe nähmen, die untersuchung mit durchzumachen und die nicht, entweder aus vorgefassten, eingerosteten meinungen überhaupt, oder weil sie selbst nicht die entdecker sind, sie gleich von der hand wiesen, die resultate seiner arbeit sich anerkennung verschaffen würden.' Wie weit sich diese hoffnung Müllenhoffs verwirklicht hat, ist schwer zu sagen; schon Plönnies wich in manchen punkten, und in einem wesentlichen von ihm ab; im allgemeinen darf man wohl annehmen, dass die, welche Lachmanns kritik der Nibelungen billigten, auch Müllenhoffs ansicht über die Kudrun gelten liefsen, und dass, als J. Grimms entdeckung der heptaden misstrauen gegen Lachmanns kritik erweckt, und Holzmann das signal zum abfall gegeben hatte, alle

die, welche Lachmanns kritik verwarfen, auch Müllenhoffs ansicht über die Kudrun für beseitigt ansahen. den unzweideutigsten ausdruck fand dieser umschwung der meinungen in der ausgabe der Kudrun von Bartsch.

Zwar jede überarbeitung stellte auch Bartsch nicht in abrede, doch meinte er, dass dieselbe nur formell gewesen sei, und sich vorzugsweise auf die einführung von caesurreimen erstreckt habe (Germ. 10, 160); die annahme hingegen, dass ein oder mehrere bearbeiter teile hinzugedichtet hätten, müsse abgewiesen werden. als quelle habe der dichter des ganzen volkslieder des zwölften jahrhunderts, man könne nicht wissen, wie frei benutzt. ohne zweifel

aber seien sie in der freien reimform dieser zeit und in den uralten reimpaaren von vier hebungen abgefasst gewesen (Germ. 10, 84). der schöne gesammteindruck unseres gedichtes komme zum teil auf rechnung der nationalen sage, des tiefpoetischen gehaltes derselben, das meiste aber gebühre doch der entschiedenen begabung des dichters. 'War seine fähigkeit, fährt Bartsch (vorr. s. XV) fort, nicht grofs genug, um etwas dem alten sagenstoffe gleichstehendes hinzuzudichten (und wer wird sich darüber wundern, wenn er bedenkt, dass die volkssage das erzeugnis einer ganzen nation ist, dass der geist eines volkes auf ihr ruht?), so verstand er es mit meisterhand das in den volksliedern überlieferte zu ordnen und zu gestalten.'

Wo die ansichten sich so schroff gegenüberstehen, pflegt ein günstiger boden für eine neue untersuchung zu sein. doch in diesem falle konnten mich die auslassungen des herrn prof. Bartsch zu neuer erwägung nicht auffordern. denn dass seine annahme von einer einheitlichen dichtung ganz unhaltbar sei, ergibt sich für den einsichtigen schon, wenn er nur wenige seiten der Kudrun mit einiger aufmerksamkeit gelesen hat. 1 die vorliegende arbeit ist veranlasst durch die anerkennung, welche der jüngste herausgeber der Kudrun in allen wesentlichen und den meisten unwesentlichen punkten der kritik Müllenhoffs hat zu teil werden lassen.

1) Nur lege man diese worte nicht so aus, als wollte ich herrn prof. Bartsch jede einsicht absprechen. auch die kritik der Kudrun verdankt ihm manches. aber er hat immer nur zeilen und verse gelesen, nirgends zeigt er sich bemüht in den zusammenhang der dichtung einzudringen, worauf es hier vor allem ankommt. Mit einseitiger gelehrsamkeit und mechanischem sammeleifer wird man die entwickelung der Kudrun und der Nibelungen nie begreifen!

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