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Zweiter Teil.

Die Fremdwertmoral oder die Lehre von der sittlichen Selbstverneinung.

Spuren der Fremdwertmoral bei den Stofkern.

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Erstes Hauptstück.

Das synthetische Vorziehen der zweiten Art.

VI. Das Grundgesetz der Fremdwertmoral.

§. 20. A. Sein Inhalt.

Das Wollen von Fremdwerten steht über dem Wollen von Eigenwerten. 1. Indem die Stoïker die Frage nach dem wahren Personwert aufrollten und beantworteten, hatten sie, ohne es zu wissen, auf die erste synthetische Vorziehensnorm ein helles Licht geworfen. Sie hatten an jenes geistige Grundgesetz in uns gerührt, das uns befiehlt, das Wollen persönlichen Werts höher als das alles zuständlichen zu schätzen und das Wollen mehr inneren Personwerts höher als das Wollen von jedem mehr äufserlichen Personwert zu stellen. Ihnen, deren Blick für die sittlichen Erscheinungen geschärft war, begann im geschichtlichen Fortschritte ihres Systems allmählich noch etwas Anderes aufzugehen. Sie fingen auch davon etwas zu merken an, dafs noch eine zweite sittliche Gesetzlichkeit in unserem Willen walte. Bereits die ältere Stoa meinte, wer seine eigne vernünftige Natur auslebe, gebe sich eben damit an die allgemeine Weltvernunft hin. Die späteren Vertreter der Schule, Seneca, Epiktet und Marc Aurel, verkündeten immer bewulster, dafs diese Hingabe die sittliche Aufgabe in sich schliefse, ein Leben der Gemeinschaft mit den übrigen gottbeseelten Wesen zu führen und in der Gemeinschaft nach Gerechtigkeit und Menschenliebe zu handeln. Freilich haben die Stoïker niemals ganz klar erkannt, dass sie, indem sie zur Liebespflicht gegen Gott und die Mitmenschen aufriefen, auf eine neue Norm des Willenslebens gestofsen waren. Widersprach doch diese spätere Wendung ihrer ursprünglichen Lehre von der stolzen Selbstgenügsamkeit des Weisen. Statt dafs sie

198 Das synth. Vorziehen erster Art deckt nicht alle sittl. Erscheinungen.

aber den Widerspruch scharf hervorhoben, stellten sie nach wie vor das frühere Problem vom wahren Personwerte in den Vordergrund und blieben bei der Meinung, alles sittliche Handeln müsse sich aus einer einzigen Wurzel ableiten lassen.

Dies ist freilich ein Irrtum. Gewiss erklärt das synthetische Vorziehen der ersten Art sehr viele Erscheinungen des sittlichen Lebens. Alle zusammen erklärt es nicht. Es lehrt zwar verstehen, dass es billig und gerecht ist, andere Menschen gleich uns selber zu schätzen. Dafs wir uns aber für sie sogar opfern können, läfst es unbegriffen.

Träte nicht etwas ganz Anderes zu dem blofsen Billigkeits- und Gerechtigkeitsstandpunkte hinzu, so dächten wir in der That niemals daran, ihren Zustandswert, ihre Person und ihr Leben über all das gleiche bei uns zu setzen. Statt dessen ist das sittliche Leben von Thaten der Selbsthingabe gerade voll. Für diese kann die Billigkeits- und Gerechtigkeitsmoral den Boden höchstens vorbereiten. Sie macht selbstsüchtige Regungen gegen Mitmenschen seltener oder hält uns wenigstens ab, ihnen zu folgen. Sie lehrt, dass es unseren Wert nicht erhöht, wenn wir andere schädigen oder verunglimpfen, sondern dass wir uns erniedrigten, liefsen wir uns von Augenblick simpulsen des Zornes, des Hasses, der Rachsucht u. s. w. hinreissen. Indessen die selbstischen Regungen eindämmen und zurückhalten ist nur etwas Negatives. Es ist noch lange keine opferfreudige Hingabe, die wir üben können und alle Augenblicke üben. Wir üben sie z. B. im Familien- und Gemeinschaftsleben. Ebenso übt sie schon, wer für Gerechtigkeit und Billigkeit warm eintritt. Denn wer auf seine eigne wahre Würde sieht und gerecht und billig gegen Mitmenschen ist, giebt sich eben damit an ein Ideal hin und vergifst seiner selbst. Nicht blofs, dafs er gelernt hat, seinen mehr inneren Personwert über allen mehr äufseren zu setzen. Was ihn vor allem bewegt, ist der Wunsch, allein dem Gesetze seines Willens zu leben. Deshalb drängt er seine entgegenstehenden selbstischen Regungen zurück. Nicht sich liebt er, sondern das Gesetz, das er als seine innere sittliche Wahrheit erkannt hat. An die sittliche Wahrheit giebt er sich selbstlos hin, sie betrachtet er als einen höhern Zweck über sich, in dessen Dienste seine sittliche Selbstbejahung steht. Ihr weiht er sich, mit jenem idealen Zweck erfüllt er sich, für sich will er nichts

Der fortschr. Motivwandel deutet auf ein zweites Willensapriori hin.

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sein noch haben. Nicht dafs er sich selbst behauptet, beseligt ihn, sondern dafs er unselbstisch eine Aufgabe erfüllt.

Der tief innerliche Zug des Menschenherzens, nicht sich auszuleben, sondern sich an eine Aufgabe auszuleben, ist von den Stoïkern nicht als solcher gewürdigt worden. Nur unklar empfanden sie jenes Sollen, das uns befiehlt, uns nicht an Zustandswerte zu verlieren, noch eitlen Personwerts zu befleissigen, sondern uns an Fremdwerte hinzugeben. Erst von andrer Seite kam den Menschen des Altertums die Einsicht, dafs der tiefste Sinn unseres geistig-sittlichen Wesens nicht Selbstbehauptung, sondern Selbsthingabe sei. Unaufhaltsam kam sie jener Zeit, wo der gekünstelteste Sinnen genufs erst recht die innere Leere, die er zurückläfst, merken liefs, wo das Bewusstsein des selbsteignen persönlichen Werts auf den höchsten Punkt gekommen war, um sich mit der Erkenntnis, wie ohnmächtig physisch und politisch die Träger solchen Wertes wären, desto schmerzlicher zu paaren. Es bedurfte nur eines Anstofses, um das Gebot der Selbsthingabe ins helle Licht des Wissens zu heben. Der Anstofs kam durch die Lehre Christi. Aus Galiläa wurde den Menschen ein neues Evangelium gepredigt, das schlichte und gewaltige von der Liebe, die höher als das Gesetz und gröfser als der Tod ist. Die Erkenntnis dieses sittlichen Faktors ist seit der Bergpredigt dem Menschengeschlechte immer mehr aufgegangen.

2. Man darf von vornherein erwarten, dass es eine zweite Art des synthetischen Vorziehens giebt. Schon ein Blick auf den fortschreitenden Motivwandel (vgl. S. 24) nötigt dazu, solch neues Willensapriori anzunehmen. Dieser Motivwandel zeugt von einem geheimen Gesetz, das in uns waltet. Auf einem Gesetz mufs es ja beruhen, dafs die altruistischen Triebe im Laufe der Zeit so mächtig in den Vordergrund gerückt sind, und dafs sich ihre zarte Stimme langsam aber sicher Gehör verschafft hat, wie sehr auch die selbstischen Begierden andrängten. Jenes Gesetz kann nur ein Gesetz des Vorziehens sein. Denn die einfachste Erfahrung zeigt, dass das Übergewicht der unselbstischen Motive nicht auf Rechnung ihrer selbst, d. i. ihrer gröfseren Stärke kommt. Also bleibt nur übrig, dafs sie es durch besondere Vorziehen sakte erhalten: selbstloses Wollen mufs uns in sich vorzüglicher als selbstisches erscheinen. Synthetisches Vorziehen muss am unselbstischen

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