Ob die Schaffenskraft des Lebens aufhören kann? 401 und Pfeifen und Schrillen zerbarst der Sarg und spie tausendfältiges Gelächter aus. Und aus tausend Fratzen von Kindern, Engeln, Eulen, Narren und kindergrofsen Schmetterlingen lachte und höhnte und brauste es wider mich" (S. 200). Eine schwermütige Konsequenz der aristotelischen Lehre, hernach die Befreiung davon, ist hier angedeutet. Die Entelechieen, die Werdetriebe des Aristoteles müssen aufhören, sobald sich der Organismus ausgelebt hat, d. h., wenn es zu allen Zwecken, auf die hin er angelegt war, gekommen ist. Denn dann giebt es keine Anlagen mehr in ihm zu verwirklichen; folglich mufs die Triebkraft der Entelechie schwinden, da sie ja nur aus dem, was ihm zur künftigen Vollendung fehlte, ihre Lebendigkeit nahm. Die Kraft der Entelechie mifst sich m. a. W. durch den Unterschied zwischen der gegenwärtigen Möglichkeit und der künftigen Wirklichkeit. Ist alles geleistet, was zu leisten war, so sinkt diese Kraft zur Null herab; die Entelechie hört auf, der Organismus stirbt und zerfällt. In der Sprache Nietzsches: Der rastlose Lebenswille in allem Organischen, die treibende (unpersönliche) Entelechie des Übermenschen erlischt, sobald das Menschengeschlecht zum Ziel gekommen, die Generation der Übermenschen erreicht ist. Von da an giebt es keinen Fortschritt mehr. Die schaffende Kraft des Lebens schwindet; das Ende ist Verfall, Vernichtung. Ein unerträglicher Gedanke! Nach ihm steht hinter dem Übermenschen das Aufhören der menschlichen Entwickelung, das Nichts. Alle die Kulturblüten, alle die Geistes- und Herzenskämpfe wären dann doch umsonst. Auferstehungen, wie dort beim individuellen Leben, scheinen hier nicht mehr möglich. „Nicht mehr wollen, nicht mehr schätzen, nicht mehr schaffen, des Willens Zeugeund Werdelust verlernen, ach, dafs diese grofse Müdigkeit mir stets fern bleibe!" (S. 125/6), hiefs es einst. Die grofse Müdigkeit scheint aber kommen zu müssen. Unabwendbar naht die Zeit, wo dasselbe, was Zarathustra den „Verächtern des Leibs" vorwirft, vom gesammten Menschheits-Leben heissen wird: „Nicht mehr vermag es das, was es am liebsten will: über sich hinaus zu schaffen" (S. 48); denn jeder geworfene Stein mufs fallen" (S. 229). Schopenhauers Fabellied des Wahnsinns, dafs das Wollen zu Nichtwollen würde (S. 208), scheint Wahrheit werden zu müssen. 2. Nietzsche mag diese Konsequenz nicht ziehen, darum ändert er die Voraussetzung und das Problem. Gewifs, schliefst er, es giebt eine zweckthätige Kraft in allem Werden. Aber der Zweck dieser Kraft kann nicht der Übermensch sein. Er mag ihr Produkt sein, ihr letztes Ziel ist er nicht. Betrachtete man ihn als ihr letztes Ziel, so käme dahinter ein leeres Nichts, ein schwarzer Sarg. Ein Wirbelwind mufs wehen, diesen trüb Schwarz, Ethik. 26 402 Vorbereitung der Lehre von der ewigen Wiederkehr“. sinnigen, trübseligen Sarg zu zerbrechen und daraus tausendfältiges Gelächter zu entlassen. Ähnlich im Gesicht und Rätsel" (S. 234): „0, meine Brüder, ich hörte ein Lachen, das keines Menschen Lachen war, — und nun frifst ein Durst an mir, eine Sehnsucht, die nimmer stille wird. Meine Sehnsucht nach diesem Lachen frifst an mir: o, wie ertrage ich noch zu leben! Und wie ertrage ich's jetzt zu sterben!" Zarathustra erkennt nämlich, der Sinn des Lebens müsse ein anderer, als der Übermensch sein. Statt Übermensch“ heifst es jetzt „Übermensch und alles, was kommen soll" (S. 308). Übermensch gilt jetzt nur noch als „ein vom Wege (vom unterwegs des Lebens) aufgelesenes Wort“ (S. 289). Nehme man es als letztes Wort des Lebens, so verstehe man noch nicht dessen Leichtigkeit und Fröhlichkeit (S. 282). Es ist zu viel Schwere, d. i. zu viel bestimmter Zweck, in dem Begriff. Das Leben will nicht solch bestimmten Zweck, sondern nur die Stufen dazu. Es will der Stufen Widerspruch und Überwindung (S. 142), gleichgültig, wohin sein Steigen führt. Es ist ein Born der Lust, nicht am Übermenschen, sondern an sich, dem Leben selber. Es schafft Hässliches, um sich darüber hinweg in um so vollerer Schönheit wiederzufinden. Es braucht die Gegensätze, um sich in ihrer Überwindung gleichsam planlos an sich zu freuen. Kein Zufall, den es erst irgend welchem besonderen Ziele gefügig machen müsste, kann ihm mehr in die Quere kommen. Das Tanzen in Zufällen und über Zufälle, der Zufälle Gegenspiel und Überwindung ist selbt gerade der Sinn des Lebens geworden. Zarathustra spricht das aus: Wahrlich, ein Segnen sei es und kein Lästern, wenn er lehre: „Über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ungefähr, der Himmel Übermut. „Von Ungefähr“, das ist der älteste Adel der Welt, den gab ich allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke. Diese Freiheit und Himmelheiterkeit stellte ich gleich azurner Glocke über alle Dinge, als ich lehrte, dafs über ihnen und durch sie kein ewiger Wille will. Diesen Übermut und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willen, als ich lehrte, bei allem ist eins unmöglich — Vernünftigkeit!" Ein wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern, - dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt; um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt. Ein wenig Weisheit ist schon möglich, aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen: dafs sie lieber noch auf den Füfsen des Zufalls tanzen. O Himmel über mir, du reiner, hoher! Das ist mir nun deine Reinheit, dass es keine ewige Vernunftspinnen und -Spinnennetze giebt; dafs du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle, dafs du mir ein Göttertisch bist für göttliche Würfel und Würfelspieler“ (S. 243, vgl. S. 289), Der Lebenswillle spricht: ,,So werde ich es wollen?" 304 3. Diese Lehre von der Notwendigkeit1) der Zufälle für das Leben, von der lachenden, zweckfernen Lust des Lebens rein an der Überwindung von Zufällen, durch die es nur nebenbei einen Erdensinn schafft, ohne dafs es nach ihm strebt, läfst eine wichtige Folgerung zu: Wohl mag bei dem beständigen Reigen der Zufälle, über die das Leben selig emporsteigt, die Menschheitsentwicklung in einer Generation der Übermenschen enden. Das Leben selber endet nicht. Es sucht neue Zufälle, um weiter zu überwinden und zu steigen. Da aber neue Entwicklungen nicht möglich sind, will es sich, also die ganze Reihe noch einmal. (S. 208, 232, 289.) Das ist Nietzsche's Lehre von der ewigen Wiederkehr aller Dinge. Ob er sie der stoïschen Philosophie entlehnt hat? Er selber scheint es nicht zu bemerken. Aber er denkt sie in seinem Worte von dem „grofsen Mittag" weiter: Die Mitte, der grofse Mittag, sei überall. (S. 317, vgl. 252, 289.) ,,Der grofse Mittag ist überall" kann zweierlei bedeuten. Es kann bedeuten: Ich selber gehöre zu den entscheidenden, gerade jetzt entscheidenden, Ursachen der ewigen Wiederkunft (S. 322). Von meinem Jetzt läuft eine lange Gasse in die Ewigkeit hinaus und wieder zu mir zurück. Darum bin ich aller Zukunft für mein Thun verantwortlich und mufs gerade jetzt das Höchste wollen, das Höchste denken, das Höchste thun. Denn meine Gröfse dieses Augenblicks, oder aber meine Gemeinheit dieses Augenblicks, kehrt ewig wieder. Jener Satz kann aber auch bedeuten: jedes Ding darf sich als Zweck der ganzen Entwicklung betrachten; sonderlich die starken, kräftigen, gewaltherrischen Dinge (S. 296). In ihnen ist gerade jetzt der Höhepunkt der Entwicklung erreicht. Alles war und ist auf sie, sie selber sind zu nichts verpflichtet. Die erste Deutung (Entwicklungsmoral) verträgt sich, die letzte (Herrenmoral) widerspricht sich mit ethischer Gesinnung. Im Zarathustra ist Nietzsche der ersten Deutung treu geblieben. Dort weist er alle Arten der Selbstsucht ab und nennt „über sich hinaus schaffen“ das höchste Thun (Entwicklungsmoral). Die andere Deutung (Herrenmoral) bezeichnet er als eine „Gefahr“ (S. 296). In seinen späteren Schriften unterliegt er selber der Gefahr. Der Sinn der Erde soll in einzelnen mächtigen Menschenexemplaren, Herrenmenschen, liegen; sie seien befugt, den Zweck alles Lebens selbstisch auf sich zu beziehen. Es ist zu bedauern, dafs Nietzsche dem lesenden und nicht lesenden Publikum vor allem als Prediger dieser,,Herrenmoral" bekannt ist. Ein andrer Nietzsche, der Verfasser des „Zarathustra," der Lehrer der Entwicklungsmoral, wird in der Geschichte der Philosophie leben. 1) Vgl. S. 223: ,,Die Zeit ist abgeflossen, wo mir noch Zufälle begegnen durften." 404 Alphabetisches Register. Alphabetisches Register. (Die in cursiv gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Anmerkungen.) A. Abgewöhnung v. Schlechtem 107 f., Altruistische Sittlichkeit 207 ff.; steht im Range unter impersonaler Analogie von Logik und Ethik Anstand 57, 157. Apriori des Staatslebens 128, 236, Alphabetisches Register. Associationszwang 69; überwindbar durch logischen Zwang 100, 106. Autoritative Moralsysteme 92, 203. sonalismus 380. B. Banausentum 372. Befehle, sittl., sind keine Empfeh- Begriffe, sittliche: verwirrt 8 f., 11, Berufswahl 180, 170, 182 f. 405- 162f., 167f., 173, 201, 248 ff., 252, Billigkeit 158, 169, 171, 174 ff., Böses 65 ff., 88, 90, 112; bei den Brentano 17, 25 ff., 66 f. C. Centrierungsgesetz 93, 113, 269. D. Dankbarkeit 218, 365. Demut vor Gott 108, 184, 200, 353 f. Wohlthaten 185, 365; D. beim E. Egoismus 236, 245 ff., 356/7 s. Selbst- Ehe 143, 278, 377f. |